Der Sinn­blick — Die hal­tungs­spe­zi­fi­sche Arbeit mit Sinnbildern

erschie­nen in: NÖLP News / Dezem­ber 2022
Zusam­men­fas­sung einer Mas­ter­ar­beit / Teil 2

“Wenn wir die Men­schen nur neh­men, wie sie sind, so machen wir sie schlech­ter; wenn wir sie behan­deln, als wären sie, was sie sein soll­ten, so brin­gen wir sie dahin, wohin sie zu brin­gen sind.” (Johann Wolf­gang von Goethe)

Neben der metho­di­sche Sinn­bild­ar­beit (Teil 1 — NÖLP 2022/2) lässt sich auch hal­tungs­spe­zi­fisch mit inne­ren Bil­dern arbei­ten. Ange­lehnt an obi­ges Zitat appel­lier­te Vik­tor Frankl (1972) dar­an in das eige­ne Bild von einem ande­ren Men­schen „den Wil­len zum Sinn” mit­ein­zu­schlie­ßen und an sei­nen „hei­len Per­so­nen­kern zu glau­ben“ (Frankl, 2005). Dann wür­de man ihm dabei hel­fen, das zu wer­den, was er wer­den kann und dabei unter­stüt­zen, sein mensch­li­ches Poten­ti­al zu mobi­li­sie­ren. Denn die Art und Wei­se, wie wir einen Men­schen sehen und ihn behan­deln, kann als ein Ele­ment der the­ra­peu­ti­schen Bezie­hungs­ge­stal­tung erheb­lich zum The­ra­pie­er­folg oder ‑miss­erfolg bei­tra­gen. Wir wür­den dazu ten­die­ren „dem Bild, das ein wich­ti­ger Mensch von uns hat, mit der Zeit immer ähn­li­cher zu wer­den” (Had­in­ger, 2020; Hüt­her, 2004).

Das nach­fol­gen­de Bei­spiel der Son­ja Knips und des Malers Gus­tav Klimt aus der Recher­che von Boglar­ka Had­in­ger (2020) beschreibt die­ses Phä­no­men sehr bildhaft:

Links: Foto von Son­ja Knips 1898, 24 Jah­re alt (Abb. 1)

Zum Zeit­punkt der Auf­nah­me war Son­ja Knips 24 Jah­re alt und oft krank, depres­siv und unglück­lich mit einem wohl­ha­ben­den Mann ver­hei­ra­tet. Auf die­sem Foto erscheint sie mit lee­rem Blick, die Schwer­kraft ihrer phy­si­schen und psy­chi­schen Ver­fas­sung erscheint sowohl in ihren Gesichts­zü­gen als auch in ihrer gesam­ten Hal­tung spürbar.

Links: Gemäl­de von Son­ja Knips 1898 von Gus­tav Klimt (Abb. 2)

Ihr Ehe­mann beauf­trag­te Gus­tav Klimt, eine Ölma­le­rei der jun­gen Frau für die Ahnen­ga­le­rie zu malen, da er sogar um ihr Leben bang­te. Es dau­er­te bei­na­he ein Jahr bis das Bild fer­tig­ge­stellt war. In die­ser Zeit habe sich der Maler oft mit sei­nem Modell getrof­fen, er habe vor allem die inne­re Per­son erfas­sen und sicht­bar machen wol­len. Das gemal­te Ölbild ent­stand im sel­ben Jahr wie die Foto­gra­fie “Son­ja Knips mit Hund”. Klimt wähl­te sehr bewusst das gesam­te Arran­ge­ment — die Stim­mung der Far­ben des aus­ge­wähl­ten Tüll­klei­des und des Hin­ter­grun­des, ihre Kör­per­hal­tung, ihren Gesichts­aus­druck und ihren Blick. Das fer­ti­ge Bild zeigt eine jun­ge Frau, die gera­de im Begriff ist, auf­zu­ste­hen. Das Gesicht macht einen „auf­merk­sa­men und klu­gen“ Ein­druck. Ihre Hal­tung ist auf­recht. Leich­tig­keit, Auf­merk­sam­keit, “Schwe­re­lo­sig­keit” und eine „inter­es­san­te Kör­per­span­nung“ zeich­nen sie aus.

Links: Das Spei­se­zim­mer der Vil­la Knips in Döb­ling, (Abb. 3)

In Abb. 3 hängt das Bild an zen­tra­ler Stel­le eines Raums der Vil­la der Fami­lie Knips in Döb­ling. Es kann ange­nom­men wer­den, dass die Gemal­te täg­lich mit ihrem Anblick bewusst oder unbe­wusst in Berüh­rung kam.

Links: Foto von Son­ja Knips 1908, 34 Jah­re alt (Abb.4)

Die letz­te Foto­gra­fie zeigt sie 10 Jah­re spä­ter, im Jahr 1908, im Alter von 34 Jah­ren. Auf die­sem Bild sieht sie dem Ölge­mäl­de deut­lich ähn­li­cher als der Frau auf der Foto­gra­fie vor 10 Jah­ren. Sie sieht jün­ger aus als vor 10 Jah­ren, ihre Kör­per­hal­tung ist auf­recht, ihr Gesicht wirkt „auf­merk­sam und klug“. Auf dem Foto erscheint eine schö­ne, aus­drucks­star­ke, jun­ge Frau. Zu die­sem Zeit­punkt sei sie nicht mehr kränk­lich und depres­siv gewe­sen. Außer­dem wäre sie sehr ein­fluss­reich für die Ent­wick­lung der Wie­ner Moder­ne gewe­sen und habe zu jenen Frau­en gehört, die Wiens „inter­es­san­tes­te Jour-Fix-Gesprä­che“ lei­te­ten und für jene Zeit eine sehr eman­zi­pier­te Stel­lung inne­hat­ten. In der Zeit der Wie­ner Sezes­si­on setz­te sie sich für die Ver­wirk­li­chung der Idee ein, dass Kunst für alle Men­schen zugäng­lich gemacht wer­den sol­le. Es scheint, dass sie eine cha­rak­ter­star­ke, in sich ruhen­de Per­sön­lich­keit gewor­den war, die ihren Lebens­in­halt gefun­den hatte.

 

Die­ses Bei­spiel erweckt den Ein­druck, dass Klimt (ohne psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Kennt­nis­se) in der Art und Wei­se, wie er Son­ja Knips wahr­nahm, ein Bild von ihr erschuf, wel­ches ihr bei ihrer posi­ti­ven Ent­wick­lung gehol­fen haben könnte.

Wis­sen­schaft­li­che Hintergründe

Bereits 1965 gab es in der Psy­cho­lo­gie ein bekann­tes Feld­ex­pe­ri­ment. Dabei zeig­te sich ein psy­cho­lo­gi­sches Phä­no­men, das heu­te als „Pyg­­ma­­li­on-Effekt“ bzw. „Rosen­­thal-Effekt“ bezeich­net wird. Im Expe­ri­ment konn­te her­aus­ge­fun­den wer­den, dass die vor­weg­ge­nom­me­ne Ein­schät­zung eines Schü­lers sich der­art auf sei­ne Leis­tun­gen aus­wirkt, dass sie sich bestä­tigt. Das Expe­ri­ment geht auf Robert Rosen­thal und Len­ore F. Jacob­son zurück (Rosen­thal & Jacob­sen, 1968). Der Name wur­de der Figur Pyg­ma­li­on auf­grund sei­ner Mytho­lo­gie ent­nom­men: Pyg­ma­li­on woll­te sich von der Lie­be ent­täuscht nur noch der Bild­haue­rei wid­men und erschuf eine Elfen­bein­sta­tue ganz nach sei­ner inne­ren Vor­stel­lung von der idea­len Frau. Auf sei­ne Bit­te hin erweck­te die Göt­tin Aphro­di­te die Sta­tue zum Leben — Sein Wunsch­bild war Wirk­lich­keit gewor­den. In der Wis­sen­schaft steht nun sein Name für das Phä­no­men, dass die (meist unbe­wuss­te) Vor­stel­lung, die wir haben, einen Ein­fluss auf die Ent­wick­lung eines ande­ren Men­schen haben kann — gute Erwar­tun­gen bewir­ken gute Ergebnisse.

Beim umge­kehr­tem Effekt, der Aus­wir­kung von neg. Erwar­tun­gen wird manch­mal vom „Golem-Effekt“ gespro­chen. Das hebräi­sche Wort „golem“ bedeu­tet soviel wie „form­lo­se Mas­se, unvoll­ende­te Form“, steht aber auch für „Embryo“ (Zür­cher Bibel, 2007, Psalm 139,16). Im Neu­he­brä­isch wird golem oft mit „dumm“ oder „hilf­los“ über­setzt. Bei Per­so­nen, die mit nega­ti­ven Erwar­tun­gen, Glau­bens­sät­zen oder Aus­sprü­chen (z.B. aus dir wird sowie­so nichts etc.) kon­fron­tiert sind, wer­den nega­ti­ve Ent­wick­lun­gen begüns­tigt und Blo­cka­den ver­ur­sacht. In einer Stu­die von Bab­ad, Inbar und Rosen­thal (1982) geht die Wirk­sam­keit des Golem-Effekts her­vor. Auch am Arbeits­platz ist der Effekt wirk­sam, z.B. wenn Vor­ge­setz­te die Leis­tun­gen einer Ein­zel­per­son oder eines Teams schlech­ter einschätzen.

Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gisch sind die­se Effek­te auch in frü­hen Jah­ren bedeu­tend. Für Fona­gy et al. (2004), wür­de mit der Wahr­neh­mung des Kin­des als „inten­tio­na­les Wesen“ eine „fein­füh­li­ge­re Betreu­ung“ und somit eine „siche­re­re Bin­dung“ ein­her­ge­hen (ebd. S.63). Auch bei Meins et al. (2002) wur­de der Zusam­men­hang zwi­schen einer „müt­ter­li­chen Sen­si­ti­vi­tät“ und „ange­mes­se­nen inten­tio­na­len Zuschrei­bun­gen“ fest­ge­stellt. Die­se Stu­di­en geben ers­te Hin­wei­se dar­auf, dass die inten­tio­na­le Ein­stel­lung der Bezugs­per­son ein Prä­dik­tor sowohl für die Ent­ste­hung von Bin­dungs­si­cher­heit sein könn­te als auch für die Fähig­keit ange­mes­se­ne inne­re Bil­der und Über­zeu­gun­gen von sich selbst und ande­ren zu entwickeln.

Wie kön­nen Sie selbst den Sinn­blick nut­zen, um das ver­bor­ge­ne Poten­zi­al der Men­schen, mit denen Sie arbei­ten, ans Licht zu bringen?

Einer­seits kön­nen Sie Ihren Kli­en­tIn­nen bei­spiels­wei­se die obi­gen Bil­der der Son­ja Knips mit der dazu­ge­hö­ri­gen Hin­ter­grund­ge­schich­te zei­gen und dar­über zu erzäh­len. Das Gezeig­te ist schon sehr selbst­s­er­klä­rend und die Kli­en­tIn­nen kön­nen nach­voll­zie­hen wor­um es geht (Moder­ba­cher, 2020).

Dar­über hin­aus soll­ten Sie natür­lich ver­su­chen die Hal­tung des Sinn­blicks selbst ein­zu­neh­men: Machen Sie sich zuerst ein Bild davon, was Sie im Inne­ren der ande­ren Per­son wahr­neh­men kön­nen. In der eige­nen Hal­tung soll­te man die­sem Gese­he­nen dann mög­lichst unvor­ein­ge­nom­men und offen begeg­nen (Phä­no­me­no­lo­gie) und an des­sen unbe­ding­ten Wert glau­ben. Erst dann ist es mög­lich dem Wahr­ge­nom­me­nen mit einer ehr­li­chen Wert­schät­zung zu begeg­nen und der Kli­en­tIn wider­zu­spie­geln. Die Vor­weg­nah­me der Wert­mög­lich­keit pas­siert auf Grund­la­ge der Wesens­wirk­lich­keit der Per­son – die Kli­en­tIn­nen sol­len sich nicht „ver­for­men“ son­dern ihr eige­nes Poten­ti­al erken­nen ler­nen und in die­ses hin­ein­wach­sen. Auch die Pro­ble­me der Kli­en­tIn wer­den dann meist aus einer neu­en Per­spek­ti­ve betrach­tet. Das kann zu einem bes­se­ren Selbst­bild und einer Res­sour­cen­ak­ti­vie­rung der Kli­en­tIn füh­ren und ihr/ihm dabei hel­fen neue Wege zur Lösung von Pro­ble­men und zur Errei­chung von Zie­len zu finden.

Der Sinn­blick scheint beson­ders für The­ra­peu­tIn­nen, Päd­ago­gIn­nen, Bera­te­rIn­nen und Coa­ches ein wert­vol­les Instru­ment zu sein. Er kann aber von jedem ver­wen­det wer­den, der sich selbst oder einem ande­ren Men­schen hel­fen will, sei­ne Poten­zia­le aus­zu­schöp­fen. Beson­ders zur jet­zi­gen Zeit, die durch Kri­sen und Krieg geprägt ist, oder dort, wo es über die Gene­ra­tio­nen hin­weg „ver­ges­sen“ wur­de, kann es essen­ti­ell sein sich wie­der an eine wohl­wol­len­de, men­schen­wür­di­ge Hal­tung zu erin­nern. Es heilt, för­dert — und macht Sinn.
Quel­len­an­ga­ben

Bab­ad, E. Y., Inbar, J., & Rosen­thal, R. (1982). Pyg­ma­li­on, Gala­tea, and the Golem: Inves­ti­ga­ti­ons of bia­sed and unbi­a­sed tea­chers. Jour­nal of Edu­ca­tio­nal Psy­cho­lo­gy, 74(4), 459–474.

Fona­gy, P., Ger­ge­ly, G., Jurist, E. (2004). Affekt­re­gu­lie­rung, Men­ta­li­sie­rung und die Ent­wick­lung des Selbst, Stutt­gart: Klett-Cotta.

Frankl, V. (1972). Why to belie­ve in others. Vor­trag vor dem Toron­to Youth Corps.

Frankl, V. (2005): Der Wil­le zum Sinn. Hofg­re­fe Ver­lag. Bern.

Had­in­ger, Boglar­ka (2020). Hand­out: Recher­che eines inter­es­san­ten Phä­no­mens. Insti­tut für Logo­the­ra­pie und Exis­tenz­ana­ly­se. Tübin­gen / Wien.

Hüt­her, G. (2004; 8. Aufl. 2014). Die Macht der inne­ren Bil­der. Wie Visio­nen das Gehirn, den Men­schen und die Welt ver­än­dern. Göt­tin­gen: Van­den­hoeck & Ruprecht.

Meins, E., Fer­ny­hough, C., Wain­w­right, R. et al. (2002). Mate­r­nal Mind-Min­­de­d­­ness and Attach­ment Secu­ri­ty as Pre­dic­tors of Theo­ry of Mind Under­stan­ding. In: Child Deve­lo­p­ment, 73, 6, 17151726.

Moder­ba­cher, K. (2020). Sinn­bil­der. Grund­la­gen zur metho­di­schen und hal­tungs­spe­zi­fi­schen Arbeit mit Vor­­s­tel­­lungs- und Visi­ons­bil­dern in der Logo­the­ra­pie und Exis­tenz­ana­ly­se. Inter­view B „Klimt-Blick“: Hei­di Vonwald.

Red­de­mann, L., Hof­mann, A., Gast, U. (2011). Psy­cho­dy­na­misch ima­gi­na­ti­ve Trau­ma­the­ra­pie bei dis­so­zia­ti­ver Iden­ti­täts­stö­rung und DDNOS. In: Psy­cho­the­ra­pie der dis­so­zia­ti­ven Stö­run­gen. Georg Thie­­me-Ver­­lag: Stuttgart.

Rosen­thal, R. & Jacob­son, L. (1968). Pyg­ma­li­on in the class­room. New York: Holt, Rine­hart & Winston.

Ver­lag der Zür­cher Bibel (2007). Psalm 139,16. Theo­lo­gi­scher Ver­lag Zürich.

Abb.: 1. Foto von Son­ja Knips 1898, 24 Jah­re alt: Had­in­ger, Boglar­ka (2020). Hand­out: Recher­che eines inter­es­san­ten Phä­no­mens. Insti­tut für Logo­the­ra­pie und Exis­tenz­ana­ly­se. Tübin­gen / Wien.

Abb.: 3–4. Bild­nis Son­ja Knips 1898 von Gus­tav Klimt. Foto vom Spei­se­zim­mer der Vil­la Knips in Döb­ling. Foto von Son­ja Knips 1908, 34 Jah­re alt. Inter­net­quel­le: www.viennatouristguide.at/Friedhoefe/Hietzing/Graeber/knips.htm. Zugriff am 07.11.2022

Die gesam­te Mas­ter­ar­beit ist nach­zu­le­sen im Online-Kata­­log der Donau-Uni­­ver­­­si­­tät Krems, unter: webthesis.donau-uni.ac.at/thesen/200695.pdf

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